Kolumne Ines Barber - Frisch un free (Folge 5)
03. September 2019, Ines Barber,

((platt)) Vun al Sieden schön? Kennst Du een Minsch, de vun al Sieden schön utsüht? Wat‘n Stress, oder? Man, düt „Vun al Sieden schön“-Motto, dat hebbt sik de Bildhauer inne Renaissangs op de Fahn schreven. Un ik heff jo ok mol Kunstgeschicht in Kiel studeert un dor ganz besünners de italienschen Büsten ut even düsse Tiet. De kannst dreihen as du wullt, de seht jümmers schön ut. Hm. Is verdammt lang her, man mien Studium wirkt bit hüüt. Deelwies mit katastrophale Fulgen för mien Konzentratschion op de wohre Kunst. Denn siet dormols kiek ik mi Minschen ok vun achtern nipp un nau an. Nich överall un jeden Dag, blots nich, man wenn ik toon Bispeel in‘ Konzert sitt oder in‘t Theoter, denn hest jo de B-Sied vunne eleganten Lüüd twangswies teemlich dicht vör Di, un denn geiht de Stress los. Op eenmol jumpt mi de dicke Nacken vun‘ Besöker links vör mi direktemang in‘t Gesicht. He harr woll keen nieget Hemd mihr to Hand, is n‘ beten dicker worrn över de Joarn und peng: Sien Krogen is to eng, un dat Fleesch wart gnadenlos hochschuuvt. Wenn he denn ok noch dat Hoor frisch superkott sneden* hett, jo, denn kollabeer ik meist op mien Sitt. Vun wegen „vun al Sieden schön“! Dat Oog höört ok mit bi so een Konzert! Vörn oppe Bühn marracht se sik af, speelt Mozart as dull, un ik warr aflenkt vun solk* snaaksche* Anblick. Bi uns Fruuns löppt‘ nich anners. Dor wart sieden Blusen un de schicksten Kleeder antrocken – man wat för Utsichten? Ok vun achtern geern mol een Avendüerland! Un ik starr denn as hypnotiseert op den een dicken brunen Gnubbel oppe Rüch vunne elegante Blondine in Rot. Dat is‘n Reflex ut‘ Studium vunne Kunstgeschichte vun Anno dormols. Un nu weetst ok, worüm ik geern in‘t Theater oder Konzert so‘n schöne lichte Schal elegant üm heff. Nobody is perfect. *** Een poor Wöör: sneden – geschnitten solk - solch snaaksch – seltsam, denkwürdig
((hochdeusch)) Von allen Seiten schön? Kennen Sie einen Menschen, der von allen Seiten schön aussieht? Was für ein Stress, oder? Aber, dieses Motto „Von-allen-Seiten-schön-aussehen“, das haben sich in der Renaissance die Bildhauer auf die Künstlerfahnen geschrieben. Ich habe mal in Kiel auch Kunstgeschichte studiert und da besonders die italienischen Büsten eben jener Epoche. Die Büsten kann man drehen, wie man möchte, sie sind wirklich von allen Seiten perfekt und schön. Seltsam, aber dieses Renaissance-Seminar von damals, das wirkt bis heute. Leider mit katastrophalen Folgen für meinen wahren Kunstgenuss. Ich schaue mir nämlich seit jeher Menschen auch von hinten genau an. Na ja, nicht überall und immer, aber wenn ich zum Beispiel in einem Konzert oder im Theater sitze. Da hat man doch die B-Seite vieler eleganter Besucher zwangsweise direkt vor der Nase. Also vor Augen. Und schon geht‘s los. Ein Blick nach links in die Reihe vor mir, und es springt der Stiernacken eines Mannes mir üppig ins Gesicht. Er hatte wohl grade kein passendes Hemd zur Hand, leicht rausgewachsen der arme Mann und peng: Sein viel zu enger Kragen schiebt die menschliche Materie gnadenlos nach oben. Sind dann noch die Haare frisch kurzgeschnitten, ist alles verloren. Von wegen „von allen Seiten schön“! Das Auge hört doch auch mit bei so einem Konzert! Auf der Bühne mühen sich die Musiker bei Mozart, und mich lenkt ein ästhetischer Ausreißer total ab. Bei uns Frauen läuft das ähnlich. Da werden seidene Blusen und edle Roben ausgeführt mit teils denkwürdigen Aussichten. Auch von hinten mit Risiken behaftet. Für mich. Ich starre wie hypnotisiert auf den einen dicken braunen Knubbel der eleganten Blondine in Rot rechts vor mir. Das ist ein Reflex, eine Folge meines Kunstgeschichtsstudiums von Anno Tobak. Warum ich also gerne im Theater oder Konzert ein leichtes Tuch um Hals oder Ausschnitt drapiere, ist klar, oder? Nobody is perfect.